Vordringen in die innere Wirklichkeit

«Machen wir's dem Wasser nach...»
Dem Wasser nach

Alles gesagt. Dem ist nichts hinzuzufügen. Oder doch? Den angehenden Leser des Büchleins, das ihn in den Chalbersäntis ebenso entführen wird wie auf die Freienalp oberhalb von Wildhaus, dem Quellgebiet der Wildhuser Thur, erwartet eine Bildungsreise der etwas anderen Art. Ein Vorwissen braucht er nicht und  kann so eigentlich alles, was er von der äusseren Welt weiss, vor dem Öffnen des Buchdeckels ablegen und sich quasi nackt (wie wir geboren werden) in die Geschichte einlassen. Das mit dem Einlassen ist natürlich so eine Sache – und deshalb ist doch noch nicht alles mit dem Titel gesagt. Es wird möglicherweise dem Autor – Erich Liebi – nicht ganz unrecht sein, wenn ich eine Warnung ausspreche. Der werte Leser, das männliche und weibliche Wesen, das im Begriff ist, in das Sing-Sprech-Spiel hineinzutreten und meint, es kenne sich in- und auswendig, mache sich darauf gefasst, dass es ihn ziemlich durchschütteln wird und er sich neu wird zusammensetzen müssen. Er wird nicht nur Zeuge von Gesprächen, die Verstand und Vernunft führen, sondern sieht sich einem Protagonisten gegenüber, der wiederum kein «lebendiger» (im herkömmlichen Sinne) Mensch, sondern die Erfindung eines anderen ist, der die Handlung ersonnen hat. Er wird homomorphen Wesen begegnen, die alles andere als erscheinungsstabil sind. Der Leser wird viele Stimmen hören, fast bis ihm die Sinne vergehen, und er wird Stille hören. Das und noch mehr entfaltet sich erst im Laufe der Geschichte. Das Wort Geschichte trifft es gut, denn geschichtet hat Erich Liebi einiges, und dem Leser ist es ans Herz gelegt, Schicht um Schicht der äusseren Illusionswelt abzutragen und ins Innere der Wirklichkeit vorzudringen. 

Verstand und Vernunft, die uns – ich beziehe mich der Anschaulichkeit halber mit ein - zunächst begleiten, wenden mit jedem weiteren Schritt in die Innenwelt den Blick vom Aussen und von der Notwendigkeit, sich dort an die Umstände anpassen zu müssen, ab und hin auf das Undenkbare, Unfassbare und doch Wahre. 

Die erste Unabhängigkeit, die uns trifft, und zwar dies in einem Sinne des Betroffenwerdens, ist der Verlust des Körpers, der Körperlichkeit. Und so, wie sich diese Selbstverständlichkeit auflöst, werden nach und nach noch andere für selbstverständlich gehaltene Zusammenhänge entlarvt und aufgelöst. Die Vorstellung von einem Leben nach Plan, aber vor allem die Einsicht, dass sie einer Täuschung erlagen, kann für im Alltag wie geschmiert funktionierende Menschen durchaus beängstigend sein. Verstehen Sie? – Deshalb mein Warnhinweis. Wer das alles nicht will, lege bitte unverzüglich das Buch zur Seite und öffne es nur ja nicht. Sofern allerdings der Leser bereit ist, sich auf Paradoxes und die Verkehrung der Tatsachen in ihr Gegenteil einzustellen, verliert er nicht, sondern gewinnt! 

Mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten, denn jeder Leser wird seinen eigenen Weg in die Höhle gehen, wird dort Eigenes vorfinden und ins Erscheinungs-Leben mitbringen, das er alsdann in einem völlig neuen Licht sieht. Also auf, dem Wasser nach!

Karin Afshar
https://www.lektoratkarinafshar.de

«Machen wir's dem Wasser nach...»
VRAQ
Very Rarely Asked Questions
10.02.2024 / 21:31
Die bisher seltenste aller selten gestellten Fragen ist hier schon 2008, am 22. Mai, spät abends um 23 Uhr 32 gestellt worden: «Kann man in einem Wort wohnen?»
Eine Antwort
06.02.2024 / 08:02
Warum kann man die Zeit nicht anhalten?
Eine Antwort
25.01.2023